Tag 4: Wien – Deutschkreutz

⌴ 110.4km ⋅ ◿ 714hm ⋅ ◺ 684hm ⋅ ⤓ 155m ⋅ ⤒ 485m ⋅ ◷ 7:09:38  ⋅ Σ 476km

Wir sind gerade mal ein paar Hundert Meter gefahren, da werden wir schon vom Strassenrand aufgehalten. “Tschuldigen, habts es an Inbus?” ruft uns ein älterer Radfahrer-Kollege mit E-Bike zu. Nicht nur, dass er sich genau die richtigen ausgesucht hat (Rennrad ohne Mini-Werkzeug und Reifenheber bedeutet im Fall des Falles einen längeren Spaziergang). Völlig korrekt ist auch die Verwendung der ‘es’-Form in der Anrede, weil Radfahrende zu siezen ist unüblich und für ein ‘du’ kennen wir uns zu wenig. Da bietet sich die in einigen österreichischen Dialekten gebräuchliche ‘es’ oder ‘ös’-Form gleichsam als Kompromiss an. “Wos für an?” lautet folglich die Gegenfrage. “I glaub an Fünfer”. Also handelt es sich um ein Problem am Rad, da können wir helfen und bleiben stehen. Es handelt sich um eine vom Kettenblatt gefallene Kette, die sich hinter dem Kettenschutz verhakt hat, der eben mit einem Inbus befestigt ist. Beim Herumhantieren mit der Übeltäterin passierts: Ulrich bewegt die Kette nach vorne und das E-Bike fühlt sich getreten und “unterstützt” jetzt den Daumen dabei sich zur Kette unter den Kettenschutz zu begeben. Resultat ist eine blutende Riss-Quetsch-Wunde am Daumen und die Erinnerung daran, dass man nicht an Motoren hantiert, die man nicht höchstselbst stromlos gemacht hat.

Nach dem Verarzten der Wunde (war ja nicht weit nach Hause) geht es heute in Richtung Deutschkreuz über Mattersburg und Sopron, aber mal wieder auf einer anderen Route, einer, die wir noch nicht kennen. Auf der süd-westlichen Seite von Sopron, dem See abgewandt, befindet sich nämlich ein hügeliger Laub-Mischwald, durch den eine schmale Strasse führt. Erinnert an den Wiener Wald, aber mit dem Unterschied, dass einfach viel weniger los ist. Keine Rennradgruppen, keine Motorräder, keine Ausflügler. Also eigentlich garnichts. Herrlich! Wie schön wäre der Wiener Wald ohne Wiener, sind wir versucht den Klassiker von Georg Kreissler abzuwandeln.

Dass hier wenig los ist, liegt daran, dass die oberen Teile der Strasse und somit auch unser heutiges Ziel eigentlich sowohl von Ungarn aus gesehen als auch aus österreichischer Sicht ein wenig im toten Winkel liegen. Das war nicht immer so, denn der Brennberg (heute als Brennbergbánya Teil von Sopron) war zu Zeiten der Monarchie ein wichtiges Braunkohlebergwerk, das damals in der ungarischen Hälfte lag. Das Bergwerk war sogar so bedeutend, dass der Brennberg bei der Anlage des Wiener Neustädter Kanals eine Rolle spielte, und 100 Jahre später gab es eine eigene Eisenbahn hinauf auf den Berg. Nach dem Ende der Monarchie und der Abstimmung in Sopron, die dazu führte, dass Sopron mit seinem direkten Umland ungarisch wurde, das Burgenland darum herum aber nicht, kam das Bergbaugebiet genau auf der Grenze zu liegen. Brennberg wurde ein Teil von Sopron und der zweite Teil, Helenenschacht, wurde österreichisch und gehört heute zur Gemeinde Ritzing, was zu einigen interessanten Verwicklungen führte. Das Bergbaugebiet wurde weiterhin als eine Einheit behandelt, in der das ungarische Bergrecht galt und auch die österreichischen Arbeiter*innen ungarische Löhne und Pensionen erhielten. Mit dieser Lösung waren nicht alle glücklich, vor allem nicht mit den nach 1945 sehr niedrigen Pensionen und der de facto Unmöglichkeit die mit der ungarischen Anstellung verbundene Krankenversicherung über den Eisernen Vorhang hinweg in Anspruch zu nehmen. Dieses Problem wurde auf dem Verordnungsweg gelöst, die entsprechende Verordnung ist noch immer gültig, auch wenn ich bezweifle, dass noch irgendjemand lebt, der davon profitieren würde, denn das Bergwerk wurde schon in den 1950er Jahren geschlossen.

Heute ist vom Bergwerk nur noch wenig zu sehen. Es gibt noch den Förderturm, den eine Gruppe Künstler*innen zu ihrem Atelier umgebaut hat und gegenüber eine Art Gedenkstätte für den Bergbau in der Region, aber auch für die Opfer des Eisernen Vorhangs. Ansonsten hat man in der ehemaligen Bergarbeiter-Gegend eine Siedlung für Wochenendhäuser angelegt und einen See gibt es auch. Hier dominieren wieder die Wiener Autokennzeichen.

Auf dem Weg runter nach Deutschkreutz haben wir es dann schon etwas eilig um es noch vor 18 Uhr zum Billa zu schaffen. Wir geben also bei der Fahrt durch die Weingegend ordentlich Gas und nehmen uns mal wieder vor, dass wir hier irgendwann mal ausgiebiger Umschau halten in einer Region, deren Orte man sonst hauptsächlich von Rotwein-Etiketten kennt.

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Die Strecke

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