“Wenn euch die Geschichte des Kohlebergbaus interessiert, müsst ihr nach Lewarde”, hat unsere Führerin durch den Grand Hornu gesagt, “dort haben sie sogar einen Schacht!” Le-wa? Le-wie? Wir kriegen einen Zettel mit dem Ortsnamen in Blockbuchstaben und sehen, dass Lewarde quasi auf unserem Weg nach Paris liegt, wenn man den Weg über Arras führen lässt. Und dann ist auch noch Schlechtwetter angesagt, also sind weniger Kilometer eh eine gute Idee.
Um 8 schüttet es, wir drehen uns nochmal im Bett um, um 9 schüttet es noch immer, also nochmal umdrehen, und als der Regen um 10 noch immer nicht vorbei ist, wage ich mich dann doch zur Bäckerei an der Ecke, denn irgendwann kriegt man Hunger. Zwei Croissants und zwei “Traditions” (traditionelle Baguette) kosten hier übrigens EUR 4.40 – alles zusammen wohl gemerkt! Eine der Traditions landet mit Reblochon gefüllt als Mittagessen in meiner Radtasche, der Rest wird ein ausgiebiges Frühstück. Zeit haben wir ja beim Warten auf das Ende des Regens…
Das Wetter mag uns heute nicht gnädig sein und so brechen wir dann doch auf und sind nach 35 km im Regen über Landstrassen, durch ehemalige Bergarbeitersiedlungen und das Gewerbegebiet von Douai im “Centre historique minier de Lewarde”. Wenn man den Schacht besichtigen will, muss man an einer Führung teilnehmen, also tun wir das. Wir starten bei der ehemaligen Lampenausgabe, überqueren den Hof und steigen hinauf zu der Stelle, wo früher der Lift die Grubenhunte ausgeladen hat und die Bergleute in den Schacht eigefahren sind. Für uns hat man einen moderneren Lift gebaut, aber 25 Personen in einem Lift, das ist eng, egal, ob er aus Edelstahl gebaut ist oder Wände aus Stahlgitter hat.
“Unten” hat man in mehreren Stationen das Bergwerk so hergerichtet, wie es in verschiedenen Epochen ausgesehen hat. “Unten” in Anführungszeichen, denn wir sind nicht wirklich in der Kohlegrube, die hier bis zu 500 m tief war, sondern in einem Nachbau einer Kohlegrube in den Bergwerksgebäuden, d.h. auf Bodenniveau. Im Grunde sowas wie Lascaux, wo man ja auch das Original nicht besichtigen kann, wobei hier aber nicht der Schutz des Originals der Grund für die Replik ist, sondern die Tatsache, dass man alle französischen Gruben geschlossen und aus Sicherheitsgründen zubetoniert hat, d.h. es gibt kein “Original” mehr zu besichtigen. Dafür aber haben die nachgebauten “galéries” den Vorteil, dass man sich auf wenig Raum 2 Jahrhunderte ansehen kann und auch anhören. Letzteres kommt ja wie auch die Ebene des Geruchs in Museen oft zu kurz, hier aber nicht. Ein paar Mal bekommen wir den Sound der originalen Maschinen vorgeführt – kaum vorstellbar, dass man 8 Stunden beim Sound eines 100 dB lauten Druckluftbohrers arbeiten kann! Ohne Gehörschutz, wohl gemerkt, denn Sicherheitsausrüstung wurde auch in Frankreich erst spät eingeführt, d.h. man hat bis weit ins 20. Jhdt. bei bis zu 40 Grad unter Tage mit einem Lederhut, einem einfachen Arbeitsgewand und Espadrillos gearbeitet. Kein Helm, keine Sicherheitsschuhe, keine Handschuhe und vor allem der Atemschutz wurde erst spät eingeführt und viele Kumpel sind vorzeitig an der Staublunge verstorben.
Pferde hatte man hier unter Tage sehr lange im Einsatz, vorzugsweise Kaltblüter aus den Ardennen, die am Anfang nur mit grossem Aufwand und in Ausnahmefällen wieder aus der Grube ans Tageslicht geholt wurden. Das hat sich später geändert, aber man hat die Pferde auch vorher nicht so schlecht behandelt wie man denken könnte, denn sie waren teuer. Auch den menschlichen Arbeitern in den Kohleminen ging es lange Zeit wirtschaftlich verhältnismässig gut, jedenfalls besser als den Industrieareiter*innen zur gleichen Zeit. Wie im Grand Hornu wohnten sie in Bergarbeitersiedlungen gleich neben dem Schacht, soziale Einrichtungen waren ebenso vorhanden. Ein grosser Raum der Ausstellung im ehemaligen Verwaltungsgebäude widmet sich den wirtschaftlichen Bedingungen und der Alltagskultur der Bergleute und ihrer Familien. Den Ausflug nach Lewarde können wir in jedem Fall empfehlen.
Auf dem Rückweg (der Regen ist inzwischen vorbei) ist uns dann das passiert, was uns auf jeder Reise irgendwann passiert: die Open Streetmap hat ein etwa 3 km langes Stück des Weges als “asphaltiert” geführt, das noch nicht einmal ein anständiger Feldweg ist. Löcher und Schotter wären ja noch OK, aber es hat seit Mitternacht fast durchgehend geregnet und so haben sind riesige schlammige Pfützen gebildet, um die und durch die wir jetzt fahren, denn irgendwann ist umkehren auch keine Option mehr. Unsere Räder sehen jetzt aus wie Cyclocross-Räder nach dem Rennen.
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