Beim Verlassen der Stadt kommen wir an einem sowjetischen Soldatenfriedhof vorbei, den wir kurz besuchen. Er befindet sich auf einem Teil des ehemaligen Stalag I-F, eines deutschen Kriegsgefangenenlagers von enormen Ausmassen, in dem über 100.000 Soldaten gefangen gehalten wurden, von denen nur knapp die Hälfte die Haftbedingungen überlebte. Baracken gab es hier nämlich ebensowenig wie ausreichende Verpflegung, die Gefangenen versuchten sich in Erdlöchern vor den eisigen Wintern zu schützen. Für diese Opfer gibt es hier auf dem Friedhof keine Gräber, die Grabsteine tragen alle das Jahr 1944 als Sterbedatum, d.h. sie stammen vom Vormarsch der Sowjetunion in Richtung Berlin.
Nach etwas über 30 Kilometern auf einer Strasse, die sich immer schmäler und immer weniger befahren durch Felder und Wald schlängelt, überqueren wir die Grenze. Derzeit wird diese Grenze von einem polnischen Grenzsoldaten mit dem Gewehr im Arm vor dem bösen Schengen-Vertrag beschützt, als Revanche dafür, dass Deutschland an der polnischen Westgrenze ebenfalls Grenzkontrollen eingeführt hat. Das wird die Deutschen aber sehr treffen, wenn hier zwischen Fichten und Moosen kontrolliert wird – und wieder einmal stirbt die europäische Reisefreiheit ein Stückerl.
Nach der Grenze geht es zuerst ein paar Kilometer durch extrem dünn besiedeltes Gebiet, wir sehen kaum einen Menschen. Und konsequenterweise ist nach wenigen Kilometern dann plötzlich auch die Strasse zu Ende, denn wer will denn schon gross drauf fahren? Und die, die darauf fahren wollen, haben einfach einen Geländewagen zu haben und nicht Fahrräder mit Strassenbereifung, mit denen man auf der Sand-Schotter-Piste abwechselnd versinkt und aufschwimmt. Kaum ist der kilometerlange Spaziergang mit Fahrrad zu Ende, kommt die nächste Gemeinheit um die Ecke: es beginnt so regnen und kurz darauf so sehr zu schütten, dass das Wasser auf der Fahrbahn stehen bleibt. Wir sind innerhalb von Minuten bis auf die Unterwäsche nass und durchgefroren, werden aber auf den letzten 30 Kilometern vom nun einsetzenden heftigen Gegenwind trocken geföhnt. Mir reichts.
Und das alles nur um dann in Marijampolė zu landen? Einer Stadt, von der der Reiseführer sagt, dass man sich den Besuch gerne ersparen kann. Eigentlich hat er recht, denn hier gibt es irgendwie nichts, kein echtes Zentrum, kaum Menschen auf den Strassen, der Hauptplatz ist eine Steinwüste, die gerne mehr wäre, aber dafür müsste mal jemand überhaupt einen Grund haben hinzukommen. Den gibt es aber nach Ende der Bürozeiten nicht, und so wohnen wir heute Nacht gleichsam im Regierungsviertel von St. Pölten. In einem Punkt aber muss ich den Reiseführer korrigieren: es gibt doch eine Sehenswürdigkeit hier in der Stadt und wer mit dem Zug anreist, hat es dann nicht einmal weit: es ist der Bahnhof der Stadt aus den 20er Jahren, liebevoll renovierter Backstein mit Türmchen und dunklen Holzbänken im Wartesaal, durch den eine Handvoll Züge pro Tag auf (noch immer) russischer Breitspur dieselt.
Die Fotos





























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