Heute verlassen wir die Flüsse und fahren quer durchs Land auf den in Frankreich glücklicherweise so zahlreichen völlig unwichtigen, aber meist recht gut erhaltenen Nebenstrassen. Es geht ein paar Hügel rauf, ein paar wieder runter, insgesamt aber gehen wir es wieder gemütlich an, denn das Schlafen auf der nicht vom DVD-grossen Hämatom bedeckten Seite hat jetzt mein auch sonst etwas überempfindliches Knie beleidigt. Dafür aber gibt es gute Nachrichten vom Ellbogen: die Wunde ist verheilt.
Wir sind also nach einem Einkehrschwung bei einem Supermarkt (Bäcker hatte schon Wochenende) und knappen 70 km in Fourmies, einer Stadt von rund 11.000 Einwohner*innen. Um 1890 waren es schon mal 15.000, damals war hier ein Zentrum der Textilindustrie mit zahlreichen Fabriken. Mit diesen Fabriken hängt es auch zusammen, dass Fourmies zu einem wichtigen Ort in der Entwicklung der französischen Arbeiter*innen-Bewegung und des Parti socialiste wurde. 1891 wurde hier eine der ersten Mai-Kundgebungen mit Streik und Familienpicknick für die Einführung des 8‑Stunden-Tages abgehalten, die damit endete, dass die Armee in die Menge schoss und Dutzende Demonstrant*innen getroffen wurden. Neun haben den 1. Mai 1891 nicht überlebt, bis auf einen waren alle Toten Jugendliche und einer sogar ein Kind von 11 Jahren. In einem der Prozesse in den darauffolgenden Monaten wurden mehrere Demonstranten abgeurteilt, aber auch Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, als Anstifter des “Aufruhrs”. Er hat die Strafe nicht vollständig abgebüsst, weil er kurz nach dem Urteil zum Abgeordneten gewählt wurde.
Wir haben bei einem ausführlichen Spaziergang durch die Stadt keine Spuren dieser Geschichte gesehen, dafür aber einerseits zahlreiche Häuser in schlechtem Zustand, anererseites aber eine hübsch renovierte Hauptstrasse (auf dem Plakat zu den Arbeiten grossspurig als “hypercentre” bezeichnet). Es gibt einen Bahnhof, durch den gerade ein ganzer Güterzug voller Elektroautos rattert als wir vorbeikommen, man hat ein zentral gelegenes Kino und gegenüber davon auch ein Theater, das als Kultur-Mehrzweckhalle dient. Das interessanteste Gebäude der Stadt wäre das “Museum für Textil und soziales Leben” gewesen (ja, das heisst wirklich so), das aber trotz der französischen Variante des Tags des Denkmals leider nicht länger offen hatte und das auch morgen nicht plant. Es befindet sich in eine alten Fabrik mit einem schiefen Schlot, und der kurze Blick, den wir erhaschen konnten, hätte schon Lust auf mehr gemacht, aber wir schaffen es halt leider nur in jedes dritte Museum oder so, das uns interessieren würde.
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