Nach zwei Tagen Grossstadt gibt es heute das totale Kontrastprogramm. Zuerst eine Fahrt durch rund 100 km Gegend, teilweise so einsam, dass man sich schon fast freut, wenn wenigstens ein paar Rindviecher am Strassenrand den Radfahrenden nachschauen. Wir hätten die Tour sogar noch einsamer haben können, wenn wir teilweise durch den Wald gefahren wären, aber das sparen wir uns und unseren Rädern nach der gestrigen Erfahrung mit dem sandigen Untergrund lieber. Hier bekommt man irgendwie das Gefühl, dass wenige Kilometer weiter östlich Europa, so wie wir es kennen, zu Ende ist, denn nach Belarus fährt man besser nicht und auch sonst scheint es nicht viel Austausch zu geben, wenn man nach den Autokennzeichen geht: ausschliesslich lokale polnische und ein paar litauische Autos und LKW waren heute auf unserer Strecke unterwegs. A propos Verkehr: hier sei noch angemerkt, dass Białystok teilweise über beeindruckende Fahrradinfrastruktur verfügt, zwar nur an den Hauptstrassen, aber genau dort braucht man sie ja auch. Die Qualität von Radwegen, die wir in den letzten beiden Tagen gesehen haben, würde ich mir in einer österreichischen Stadt gleicher Grösse (Graz oder Linz) ebenso wünschen. In einem aber sind Białystok und österreichische Städte einander ähnlich: mit der Stadtgrenze ändert sich die Zuständigkeit und somit auch der Radweg, heisst: er endet am Ortstaferl.
Nach 110 km dann kommen wir in Augustów an, wo heute auch nicht gerade der Bär steppt, denn erstens ist Montag, zweitens ist das ein Kurort und drittens haben wir gerade einmal 20 Grad. Wir gehen davon aus, dass hier ein warmes Sommerwochenende ganz anders ist, denn schliesslich gibt es hier Strand und Hafen und mit dem Augustów-Kanal zwischen den Seen einen echten Touristenmagneten. Der Kanal wurde in den 1820er und 30er Jahren errichtet als Reaktion auf die preussische Zollpolitik, er hat aber wie so viele Kanäle mit der Ankunft der Eisenbahn, die hier erst 1899 erfolgte, seine Bedeutung verloren. Heute kann man hier mit Ausflugsschiffen auf und ab fahren oder mit dem eigenen Segel- oder Motorboot, einen Radweg entlang des Kanals aber scheint es leider nicht zu geben.
In den letzten rund 100 Jahren war Augustów mehrfach Ort von Schlachten, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg und auch in der bei uns so genannten Zwischenkriegszeit, die hier aber weiterhin von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Polen, Litauen, der Sowjetunion, der Ukraine und auch deutschen “Freikorps” geprägt war. Wie wir bei unseren Touren durch das östliche Mitteleuropa schon mehrfach festgestellt haben, war der Krieg nicht mit dem Waffenstillstand von 1918 einfach aus, er ging noch mehrere Jahre weiter, so auch hier in der Gegend. Und als der Krieg dann tatsächlich beendet war, dauerte es gerade eine halbe Generation bis in rascher Abfolge sowjetische, deutsche und wieder sowjetische Truppen in Augustów einmarschierten. Die deutschen Besatzer rotteten die jüdische Bevölkerung aus. Weniger bekannt aber ist das Verbrechen der “Razzia von Augustów”, das die sowjetische Besatzung am polnischen Widerstand gegen den Kommunismus begangen hat. Es ist ja schon nicht allen bekannt, dass es einen solchen Widerstand gegeben hat, und hier in der Umgebung mehrere Tausend Menschen verhaftet, teils gefoltert und mehrere Hundert verschleppt und ermordet worden. Das Denkmal für dieses “kleine Katyn” befindet sich allerdings nicht hier im beschaulichen Kurort, sondern weiter nord-östlich, näher an der belarussischen Grenze.
Die Fotos


























Schreibe einen Kommentar