Tag 1: Białystok

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Heute keine Radfahrt, dafür aber eine Fahrt mit dem Zug von Warschau nach Białystok, der erstaunlich gut gebucht ist. Nicht nur die Pol*innen nutzen das lange Wochenende, auch internationale Fahrradtourist*innen sitzen hier im Wagen. Wo die alle hin wollen? Wir fragen nicht und schlafen lieber eine Runde. Um 14 Uhr sind wir im Hotel in Białystok, aber unser Zimmer ist noch nicht fertig, also machen wir eine Runde in der Gegend zum Denkmal des Aufstandes im Ghetto von Białystok, das sich am Mordechai-Tenenbaum-Platz befindet. Tenenbaum, wer war das? Wir suchen ein wenig im Netz und finden ihn recht schnell, schliesslich hat er sogar einen Wikipedia-Eintrag, und wer auf der Suche nach dem Stoff für einen Film ist, wird hier vielleicht fündig.

Wer also war Mordechai Tenenbaum? 1916 in Warschau geboren wird er schon als Kind Zionist, wie so viele seiner Generation. Er studiert, doch 1939 überfällt Deutschland Polen und Tenenbaum flieht nach Wilno (Vilnius), doch eigentlich wollen er und seine Freund*innen nach Palästina auswandern. Anderen kann er zwar gefälschte Dokumente verschaffen, doch er selbst bleibt in Europa und wird zu einer wichtigen Figur des jüdischen Widerstandes gegen die Nazis. Das kann er offenbar mit einer gefälschten Identität als (muslimischer) Tartare, er kann sogar nach Warschau zurückkehren und dort gemeinsam mit anderen den Aufstand im Ghetto planen. Am Aufstand nimmt er selber nicht teil, dafür aber fährt er nach Białystok und bereitet auch hier einen Ghetto-Aufstand vor und arbeitet zugleich an einem Archiv des Ghettos, ähnlich dem Ringelblum-Archiv, das die Grauen des Ghettos der Nachwelt überliefern soll. Als die Liquidierung des Ghettos unmittelbar bevorsteht, beschliessen ein paar Hundert junge Menschen im Ghetto loszuschlagen. Militärisch hoffnungslos unterlegen schaffen sie es dennoch ein paar Tage durchzuhalten und es etlichen von ihnen zu ermöglichen aus dem Ghetto zu entkommen. Tenenbaum gehört nicht zu ihnen, er nimmt sich als die Munition zu Ende geht, das Leben um nicht der SS in die Hände zu fallen. Die Geschichte ist noch nicht filmreif genug? Es gibt natürlich auch eine Liebesgeschichte, denn seine Verlobte Tema Sznajderman ist mit gefälschten polnischen Papieren ebenfalls im Widerstand tätig, als Kurier und beim Fälschen von Dokumenten. Sie ist im Jänner 1943 in Warschau beim Beginn des Aufstandes ums Leben gekommen oder kurz darauf in Treblinka ermordet worden. Ach ja, mit Odilo Globocnik gibt es hier auch noch gleichsam das personifizierte Böse (mit österreichischem Akzent) als Gegenspieler.

Woher wissen wir das? Die Universität von Białystok hat schon vor längerer Zeit begonnen sich mit der jüdischen Geschichte der Stadt auseinanderzusetzen. Dabei ist ein Pfad durch das verschwundene jüdische Białystok herausgekommen, den wir heute nachgegangen sind. Hier in der Region haben vor 1939 polnische, belarussische, jüdische, tartarische und ein paar deutsche Menschen zusammengelebt, doch Białystok mit seiner jüdischen Fast-Zweidrittelmehrheit war auch hier eine Ausnahme: eine wichtige Industriestadt mit einem reichen Kulturleben, jüdischen Schulen, verschiedenen politischen Strömungen von A wie anarchistisch bis Z wie zionistisch, Theatern und Kinos. Von diesem jüdischen Białystok ist heute nichts mehr übrig, doch man findet noch Spuren im Stadtbild und man findet Spuren im Internet, auf Seiten wie der von Yad Vashem oder offiziellen Seiten der Stadt, zu den Białystokern im Widerstand.

Hinter der grossen Geschichte tritt die heutige Stadt für uns fast in den Hintergrund, durch die wir in der sommerlichen Hitze schleichen. Wirkt sehr modern, bunt und lebendig, ein nagelneuer Bahnhof und einiges an Radwegen, renoviertes Stadtzentrum mit zahlreichen Bauten aus den 50er Jahren, grüne Innenhöfe. Gefällt uns, wir bleiben noch einen weiteren Tag.

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