Im Jahr 1522 trafen in Tykocin ein paar Umzugswagen ein, die 10 jüdische Männer aus dem nahegelegenen Grodno (heute Belarus) mitsamt ihren Familien in die Stadt brachten. Jüdische Handwerker und Kaufleute wollten die Herren der Stadt gerne hier ansiedeln und so die Wirtschaft beleben, wie man es in der Region zu dieser Zeit gerne und durchaus erfolgreich praktizierte. Die Angesiedelten bekamen ihre Rechte verbrieft, zu denen auch die Errichtung eines Bethauses gehörte, und aus diesem Grund waren auch gleich 10 Familien in die Stadt gezogen: 10 Männer werden zur Abhaltung eines Gottesdienstes benötigt. Die kleine Stadt am Narew wurde in den folgenden Jahrzehnten zur Heimat einer florierenden jüdischen Gemeinde, die so stark wuchs, dass die anstelle des ursprünglichen Holzbaus im Jahr 1642 eine gemauerte Synagoge errichtet wurde. Dieses Bauwerk ist das Ziel der heutigen Runde.
Ich habe den Namen Tykocin vorher nie gehört, aber die kleine Stadt mit rund 2000 Einwohner*innen ist in der Gegend ein echter Touristenmagnet mit ihrem restaurierten Zentrum und angeblich besuchen 40.000 Personen pro Jahr die barocke Synagoge der Stadt – ich hätte allerdings nicht vermutet, dass diese 40.000 alle ausgerechnet dieses Wochenende kommen! OK, das ist ein wenig übertrieben, aber die Stadt ist gut besucht, es gibt Stände mit Kunsthandwerk und Spezialitäten und ausser jüdischen auch noch ein paar katholische Sehenswürdigkeiten, die wir aber aus Zeitmangel auslassen. Wir hoppeln über das orignalgetreu holprig restaurierte Flusskieselpflaster zur Synagoge. “Uwaga na pole!” (Achtung auf den Boden) ruft mir ein alter Mann, der vor dem Eingang geschnitzte Holzfiguren verkauft, zu. Danke, habe ich selber bemerkt, dass das hier kein Pflaster für Radfahrende ist, egal ob fahrend oder mit Radschuhen zu Fuss.
Die Synagoge von Tykocin ist eines von 2 (in Worten: zwei) verbliebenen Exemplaren einer bis ins 19. Jahrhundert in Polen-Litauen weit verbreiteten Bauform der Synagoge, nämlich der mit einer sogenannten Stützbima. Die Bima ist gleichsam die Kanzel der Synagoge, von der aus die Thora-Lesungen stattfinden, und hier ist sie als massive viereckige Bühne im Zentrum des 18 mal 18 Meter grossen Raumes ausgeführt, die von 4 ebenso massiven, aber nicht massig wirkenden Säulen umfasst wird. Diese Säulen sind tragende Elemente des ganzen Bauwerks, es ergibt sich also eine Struktur mit 4 vom Zentrum ausgehenden Gewölben. Die Thora selbst hat ihren Platz in einem Schrein an der Ostseite des Baus, von dem sie jedes Mal feierlich zur Bima getragen wurde, wenn sie gelesen werden sollte. Lesen könnte man hier auch sonst noch einiges, wenn man nicht Analephbet*in wäre, denn die Wände des Gebäudes sind über und über mit gross geschriebenen Gebeten bedeckt, dazwischen florale Dekoration nebst ein paar Darstellungen von Löwen, Vögeln und Hasen (warum eigentlich Hasen?). Wir scannen den QR-Code zum Audioguide des Zentralraumes ein und bekommen einen Link zu einem Audiofile auf Youtube. Ganz klar ein Projekt, das den Stand des MVP nie überschritten hat und Unterbrecherwerbung in einem Audioguide ist für uns auch etwas neues. Er ist aber durchaus informativ und ein Teil der Information des heutigen Blog-Artikels stammt daraus.
Im ehemals für die Frauen vorgesehenen Anbau der Synagoge befindet sich heute eine Ausstellung mit historischen Fotos der Stadt mit ihrem Kloster, den zahlreichen Holzbauten, dem Invalidenheim und natürliche der Synagoge, dem Zentrum einer einflussreichen jüdischen Gemeinde über die Jahrhunderte, die zu ihren Hochzeiten im 19. Jahrhundert fast 3000 Personen umfasste. Die Geschichte dieser jüdischen Gemeinde endet übrigens nach fast 400 Jahren in nur zwei Tagen im August 1941, als sämtliche jüdische Bewohner*innen in einen nahe gelegenen Wald getrieben und dort von einer deutschen Einsatzgruppe erschossen werden.
Zurück in Białystok machen wir noch einen kleinen Spaziergang zum durchaus interessanten Bahnhof der Stadt. Es handelt sich um einen Bau aus der Periode als die Stadt Teil des zaristischen Russland war und an der neu geschaffenen Bahnlinie über Grodno nach Vilnius lag. Der Bahnhof ist in den beiden Weltkriegen einmal abgefackelt und einmal bombardiert worden, dann aber wieder aufgebaut und vor wenigen Jahren komplett neu restauriert. Heute ist das Bahnhofsgebäude weiss gestrichen und verfügt über alles, was Passagiere glücklich macht, von Rolltreppen über Imbissstände bis zu einem Fahrradtunnel in Richtung der Innenstadt. Den braucht es auch, denn irgendwie erscheint uns, dass der Bahnhof in Relation zur Innenstadt falsch orientiert ist, d.h. die Gleise liegen von der Stadt kommend *vor* dem Bahnhof und man muss sie jedes Mal über- bzw. unterqueren, wenn man mit dem Zug fahren will. Das dürfte aber schon seit den 1860er Jahren so sein, Białystok hatte also einige Zeit sich an diese etwas merkwürdige Lage des Bahnhofs zu gewöhnen.
Die Fotos



























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