„Die Besitzer der Fahrräder in Wagen 15 sollen sich dringend beim Zugpersonal melden“ schnarrt die Durchsage in der Westbahn. Unsere sind es nicht, wir sitzen in Wagen 16, also ignorieren wir die Durchsage, die wenig später wiederholt wird und kurz nach Amstetten noch einmal: „Zum letzten Mal: wem gehören die Räder in Wagen 15? Wenn sich die Besitzer nicht melden, steigen die Radln in Linz aus! Das is mir dann wurscht!“. Wagen 16 amüsiert sich königlich und mutmasst, was die Übeltäter auf schmalen Gummireifen wohl verbrochen haben: Stehen sie im Weg rum? Hat mal wieder jemand sein Fahrrad anstatt mit der vorgesehenen Befestigung mit einem Fahrradschloss angeschlossen? Oder haben wir hier etwa Schwarzfahrer an Bord? Wir werden es nicht erfahren, denn in Salzburg steigen genau die Räder mit uns aus, die schon die ganze Zeit in Wagen 15 gestanden sind.
Salzburg ist die erste Station unserer Flucht. Ja, anders kann man es nicht nennen, denn noch ein Wochenende mit 35 Grad aufwärts halten wir nicht mehr aus. Einen Flieger nach Skandinavien zu nehmen, wie es gefühlt die Hälfte unsere Bekanntenkreises diesen Sommer getan hat – das geht aber auch nicht, lokales Optimum hin oder her. Also mit der ersten Bahn nach Salzburg. Das war die Westbahn um 10:38, die erste mit buchbaren Fahrradplätzen, Ferragosto ist kein Datum, an dem man spontan verreist.
Und was soll man sagen? Die lange Fahrt hat sich schon beim Verlassen der Stadt ausgezahlt: fühlt sich in der Mittagshitze kühler an als auf dem Weg zum Westbahnhof 3 Stunden vorher. Ab da wird es nur noch besser. Langsam fahren wir bergauf, der Salzach folgend in ein enges Tal, das sich der Fluss mit einer Strasse und eine Bahnlinie teilen muss. Auf letzterer kommt uns ein alter Cityjet entgegen, einer von denen, über die ich auf der Strecke nach Marchegg immer so fluche. Hier aber könnte ich mir durchaus vorstellen ein Fenster aufzumachen und einfach nur in hinauszustaunen in etwas, das man in Frankreich „Les Gorges de la Salzach“ nennen würde.
Ab Bischofshofen folgen wir dann der Bahn ins Ennstal hinauf, sehr gemächlich trassiert, aber in Summe kommen heute auf etwas über 70 km doch 700 Höhenmeter zusammen. Ganz OK für eine Nachmittagstour. Und jetzt Altenmarkt im Pongau. Oben. 22 Grad um 21 Uhr. Ich denke darüber nach ein Shirt drüberzuziehen und mache mir Sorgen, dass die Pizza kalt werden könnte. 19 Grad um 22 Uhr.
Altenmarkt ist ein gemeinsam mit Zauchensee ein Zentrum des Skisports. Merkt man in der Stadt ein wenig, aber jetzt im Sommer ist weniger los. Tourist*innen sitzen um 18:30 im Gastgarten beim Abendessen, wir wandern zur Tankstelle um ein Red Bull und um uns die Füsse zu vertreten. Dann zurück zur hiesigen Kirche. Gotisch mit bemaltem Kreuzrippengewölbe und etwas, das ich bisher noch nirgends gesehen habe: Jeder Sitzplatz in der Kirche trägt ein Messingschild, in das mit einem Nagel der Name der dort sitzenden Person eingehämmert worden ist. In mir kommt die Vorstellung einer riesengrossen Schulklasse auf, wo der X unbedingt in der ersten Reihe, aber auf keinen Fall neben der Y sitzen will, verschärft durch „WIR sitzen hier schon seit 450 Jahren und das bleibt auch die nächsten 450 Jahre so!“ Rund 500 personalisierte Sitzplätze in der Kirche, aber keine 500 Namen, denn wie in einem Gebirgstal üblich hat man hier nicht so viele verschiedene Nachnamen, wie uns auch ein Spaziergang über den Friedhof beweist. Dieser Friedhof ist rund um die Kirche angelegt und weil man im Gebirge bekanntlich nicht viel Platz hat, sind die Gräber vergleichsweise winzig, wenig mehr als einen Meter lang. Wir fragen uns, ob man hier die Toten senkrecht bestattet, trauen uns aber nicht uns diesbezüglich an eine der älteren Damen mit Giesskanne zu wenden. Käme uns irgendwie pietätlos vor zu fragen, ob der geliebte Verblichene sich jetzt bis zur Auferstehung die Füsse in den Bauch stehen muss.
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