Tag 9: Vilnius – Paneriai Memorial – Vilnius

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Wir waren heute im Litauischen Eisenbahnmuseum in Vilnius, das sich als Schlechtwetterprogramm angeboten hat. So schlecht war das Wetter dann eigentlich nicht, beim Besuch des Freigeländes hinter dem Bahnhof war das aber auch kein Nachteil. Man hat hier eine kleine Sammlung an Loks und Triebfahrzeugen nebst ein wenig Fahrzeugen in Gelb aufgestellt: ein paar sowjetische Dieselloks, darunter die berühmten “Taigatrommeln” aus der Lokomotivenfabrik in Luhansk, die in unglaublichen Stückzahlen produziert wurden und im ganzen Ostblock verbreitet waren. Triebwagen und Schienenbusse hatte man auch, sowohl elektrisch als auch mit Diesel und natürlich die unvermeidliche deutsche Baureihe 52, die als Beutestück nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreich in die UdSSR verbracht und dort umgespurt wurden. Alles sehr nett, sehr übersichtlich und wenn es eine Sache zu kritisieren gibt, dann das fehlen von Texten in Sprachen, die wir auch verstehen. Da aber kann Google Translate helfen.

Richtig gut gemacht ist die Ausstellung im ersten Stock des Hauptbahnhofs von Vilnius, eines Baus aus der Zarenzeit. Auf wenig Platz bringt man insgesamt 6 thematisch geordnete Räume unter, zum Thema “Bahnhof” ebenso wie zu Signalanlagen und Eisenbahntechnik. Und immer wieder kommt die nationale Bedeutung zur Sprache, die die Eisenbahn vor allem in der ersten litauischen Unabhängigkeit hatte. Die beiden litauischen Eisenbahntunnels haben ebenfalls einen Raum bekommen. Ja, Litauen hat Eisenbahntunnel und die hat es deshalb, weil der Zar auf Urlaub in der Schweiz war, wo man damals schon welche hatte. Sie haben ihm sehr gut gefallen und er wollte auch welche. Heute ist von den Tunnels bei Kaunas noch einer in Betrieb, der andere zwischen Vilnius und Paneriai dient mindestens 5 Fledermausarten als Winterquartier. Ein schönes Beispiel dafür, was passiert, wenn der Chef auf einer Veranstaltung war und sich neue Dinge zeigen hat lassen… Ob wir uns diesen Effekt zunutze machen können und Zuständige aus Österreich nach Vilnius ins Eisenbahnmuseum schicken? Langsam wird es nämlich Zeit, dass wir auch endlich eines bekommen, schliesslich hat jedes Eisenbahnland in Europa, das auf sich hält inzwischen eines.

Weniger hübsch gemacht und unterhaltsam als das Eisenbahnmuseum war unser vormittäglicher Radausflug in die Umgebung von Vilnius, nach Paneriai. Das ist heute Teil des Stadtgebiets, das aber auch nur, weil Vilnius auf einer Fläche wie Wien nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung unterbringen muss. Und Wien ist schon recht weitläufig und grün, umso mehr noch ist es Vilnius. Unser Ziel am Vormittag ist also ein Stück Wald einige Kilometer ausserhalb der Stadt und hier war es, wo in den Jahren 1941 bi 1944 beendet wurde, was Jahrhunderte in der Stadt existiert hat und zu einem guten Stück die Stadt Vilnius ausgemacht hat: das jüdische Vilnius, das zeitweise bis zu 40% der Stadtbevölkerung ausgemacht hat. “Beendet” wurde dieses jüdische Vilnius durch die so gut wie vollständige Ermordung der jüdischen Bevölkerung der Stadt, was zum Grossteil in Paneriai geschah. Dieser Ort hatte nämlich zwei wichtige “Features” für eine gross angelegte Mordaktion: einerseits gab es hier im Wald schon fertig ausgehobene Gruben, die für die Lagerung von Flugzeugtreibstoff vorgesehen gewesen waren und andererseits trotz der etwas abgelegenen Lage als beliebter Ausflugsort Strassen- und Eisenbahnanschluss (der oben erwahnten Eisenbahntunnel mit den Fledermäusen war damals noch in Betrieb). Man hat die Jüd*innen der Stadt in zwei Ghettos zusammengefasst und sukzessive per Zug, LKW oder auch zu Fuss nach Paneriai geschafft, wo sie unter tatkräftiger Hilfe von litauischen Hilfsmannschaften erschossen wurden. 1943 wurden die in Massengräbern verscharrten Leichen wieder exhumiert und auf grossen Holzstössen verbrannt um die Spuren des Massenmordes zu verwischen.

Wieviele Opfer es im Wald von Paneriai gegeben hat, ist nicht vollständig klar, d.h. ob es um die 100.000 “Männer, Frauen und Kinder” waren oder “nur” über 70.000. Auch die Gedenkstätte widmet sich dieser Frage und sie widmet sich auch der Frage, warum auf den offiziellen Gedenktafeln nur von “Männern, Frauen und Kindern” oder “Menschen” die Rede ist, aber nicht von Jüdinnen und Juden. Dass Menschen genau deshalb nämlich vom Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden, war in der Stalinzeit nicht gern gehört und gesehen und man erwähnte diese Tatsache auf Denkmälern nach Möglichkeit nicht. Hier in Paneriai ging diese Geschichtsverfälschung sogar so weit, dass ein von Überlebenden des Ghettos finanziertes Denkmal im Wald von den sowjetischen Behörden entfernt und durch einen nichts sagenden Obelisken mit der Aufschrift “den Opfern des Faschismus” ersetzt wurde.

So wird der Spaziergang durch den Wald, zu den insgesamt 19 Denkmälern und Überresten auch zu einer Lektion in Sachen Erinnerungskultur. Kontextualisierte Tafeln aus sowjetischer Zeit, ein Denkmal für die litauischen Soldaten, die hier ebenfalls ermordet wurden, ein sehr kleines und neues improvisiertes Denkmal für die ermordeten Roma. Erst nach der Wende haben die polnischen Opfer ebenfalls eine Gedenkstätte bekommen, die lange und komplizierte polnisch-litauische Geschichte hat hier wohl noch nachgewirkt. Das gleiche ist wohl für die sowjetischen Soldaten anzunehmen, deren Opfer ebenfalls erst sehr spät in den 90er Jahren hier ein Denkmal bekommen haben.

Was die Erinnerung anlangt, dürfen wir Österreicher*innen aber auch nicht auf andere herabschauen. Bei uns hat es ebenso bis in die 90er Jahre gedauert bis die Verbrechen der NS-Zeit endlich diskutiert und aufgearbeitet werden konnten. Hier in Vilnius gab es einen besonders prominenten Fall, den des Franz Murer. Der “Schlächter von Wilna” war an der Organisation des Massenmordes massgeblich beteiligt und wurde dafür nach dem Krieg auch von einem sowjetischen Gericht verurteilt. Nach dem Staatsvertrag wurde er nach Österreich überstellt und dort prompt freigelassen. Ein zweites Gerichtsverfahren in Graz endete mit einem Freispruch im Jahre 1963, Murer starb erst 1994 hoch betagt in der Steiermark. Gerechtigkeit für seine Opfer gab es nie.

Die Fotos

Die Strecke

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